Dame Stephanie „Steve“ Shirley – Die Frau, die Arbeit für Frauen in der Tech-Welt neu erfand

Es gibt Menschen, deren Lebensweg nicht nur beeindruckend, sondern geradezu unfassbar ist. Dame Stephanie „Steve“ Shirley gehört zu diesen seltenen Persönlichkeiten.
Ihr Leben begann in einer Zeit voller Angst und Unsicherheit: 1933, in Dortmund, geboren als Vera Stephanie Buchthal, Tochter eines jüdischen Richters und einer österreichischen Mutter. Mit nur fünf Jahren wurde sie von ihren Eltern in einen Zug gesetzt – Teil des Kindertransports, einer britischen Rettungsaktion, die Tausende jüdische Kinder vor den Nazis in Sicherheit brachte.

Sie kam in England bei einer liebevollen Pflegefamilie unter. Die Trennung von den Eltern, die Flucht, das fremde Land – das hätte sie brechen können. Aber sie entschied sich für das Gegenteil. Später sagte sie über diesen Moment:
„Ich beschloss, mein Leben so zu führen, dass es die Rettung wert war.“


Eine Frau gründet eine Softwarefirma – und denkt dabei ganz neu

1962, als die Computerwelt fest in Männerhand war, gründete Stephanie Freelance Programmers. Startkapital: sechs Pfund. Arbeitsort: ihr Esszimmer.
Ihr Ziel war ungewöhnlich und für die damalige Zeit geradezu revolutionär: Sie wollte qualifizierten Frauen, vor allem Müttern, die Möglichkeit geben, von zu Hause aus zu arbeiten – flexibel, selbstbestimmt und gut bezahlt.

Damals galt: Wenn eine Frau heiratete oder Kinder bekam, endete ihre Karriere oft abrupt. Shirley wollte das ändern. Ihre Firma bot Homeoffice, Teilzeit, Job-Sharing und Bezahlung nach Leistung – Konzepte, die wir heute als „New Work“ feiern, aber damals radikal waren.

Von den ersten 300 Angestellten waren 297 Frauen. Erst ein neues Gleichstellungsgesetz 1975 zwang sie, auch Männer einzustellen. Doch selbst dann hielt sie an ihrem Kernprinzip fest: Arbeit muss zum Leben passen – nicht umgekehrt.


„Steve“ statt Stephanie – um überhaupt gehört zu werden

In den 1960ern wurden Geschäftsanfragen von „Stephanie Shirley“ oft ignoriert. Also unterschrieb sie ihre Briefe nur noch mit „Steve Shirley“. Plötzlich reagierten Geschäftspartner.
Der Inhalt hatte sich nicht geändert – nur der Name. Diese Erfahrung zeigte ihr, wie tief Vorurteile in der Wirtschaft verwurzelt waren.


Hochkarätige Projekte – aus dem Homeoffice

Wer denkt, Heimarbeit sei nur für einfache Aufgaben geeignet, den belehrte Shirley eines Besseren. Ihr Team arbeitete an anspruchsvollsten Projekten, darunter Software für den Flugschreiber der Concorde und Systeme, die später sogar von der NATO eingesetzt wurden.
Das war der endgültige Beweis: Auch von zu Hause aus kann Spitzenleistung erbracht werden.


Erfolg, der geteilt wird

Shirleys Firma wuchs, wurde unter dem Namen FI Group zur internationalen Größe und ging 1996 an die Börse. Sie führte Mitarbeiterbeteiligungen ein und machte damit rund 70 ihrer Kolleginnen zu Millionärinnen – nicht aus Wohltätigkeit, sondern weil sie Leistung und Loyalität belohnen wollte.


Fast ihr gesamtes Vermögen – gespendet

Ihr Vermögen erreichte etwa 150 Millionen Pfund. Doch anstatt es zu horten, spendete sie fast 70 Millionen Pfund für gute Zwecke – vor allem für Projekte im Bereich Autismus, inspiriert durch ihren Sohn Giles, der autistisch war.
Sie gründete Autism at Kingwood, um Erwachsenen mit Autismus betreutes Wohnen zu ermöglichen, sowie Prior’s Court, eine Schule für autistische Kinder. Mit der Shirley Foundation finanzierte sie Forschungsprojekte und Hilfsangebote – oft als erste ihrer Art in Großbritannien.


Vorbild für Generationen

Neben ihrem unternehmerischen Erfolg engagierte sich Shirley in Fachgremien und war erste Präsidentin der British Computer Society. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Titel Dame Commander of the Order of the British Empire.
Für viele Frauen war sie ein leuchtendes Vorbild – jemand, der bewies, dass sich wirtschaftlicher Erfolg und soziales Engagement nicht nur vertragen, sondern gegenseitig verstärken.

Professorin Sue Black nannte sie „eine absolute Legende“. Die Computerwissenschaftlerin Dame Wendy Hall sagte: „Sie hat so viel für die Computer-Community und für Frauen in der Technik getan – und für die Welt des Autismus.“


Abschied – und ihr Vermächtnis

Am 9. August 2025 starb Dame Stephanie Shirley im Alter von 91 Jahren.
Zurück bleibt das Erbe einer Frau, die die Spielregeln änderte – für Frauen in der Tech-Branche, für Menschen mit Autismus, für eine gerechtere Arbeitswelt.

Sie zeigte, dass Erfolg nicht bedeuten muss, anderen den Platz streitig zu machen. Erfolg kann bedeuten, Plätze zu schaffen, an denen mehr Menschen ihre Stärken einbringen können.

„Frauen mussten laut schreien, um gehört zu werden“, sagte sie einmal.
Shirley war eine der Ersten – und sie schrie am lautesten.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Hast du Fragen oder Feedback an uns?
Schreib uns eine Mail